Zuletzt geändert am Mittwoch, dem 23. August 2006 um 15:07 Uhr    

Einführung ins Programm

Als am 22.April 1723 der Rat der Stadt Leipzig nach einigen Disputationen Johann Sebastian Bach zum Thomaskantor und "Director musices" wählte hatte man bewusst, um die Stellung der freien Reichs- und Messestadt Leipzig aufzuwerten, einen Bewerber aus der Kapellmeisterschicht vom Range eines Telemann, Fasch, Graupner und eben Bach ausgewählt. Einige sich ebenfalls bewerbende Schulmeister-Kantoren kamen erst gar nicht in die engere Wahl. Seit 1723 nun unterschrieb Bach vorzugsweise mit "Cantor und Capellmeister", worin sein Ziel zum Ausdruck kommt, das Thomaskantorat als Kapellmeister zu verwalten. Dies kommt z. B. in der neuen kompositorischen Qualität seiner insgesamt 5  Kantaten Jahrgänge mit fast  200 Kantaten zum Tragen, in denen er eine Vielzahl von Modellen instrumentalen und vokalen Musizierens erprobte. Oder sein "Cantor & Capellmeister" - Verständnis zeigt sich darin, daß Bach die besten Musiker seiner Stadt zur Mitarbeit an der gottesdienstlichen Musik an der Thomas- und an der Nikolaikirche motivieren konnte. Dies erlaubte ihm, Werke hohen musikalisch-virtuosen Anspruches zu komponieren und auch aufzuführen. Nur so konnte er an die Realisierung großangelegter Werke denken, nur so waren die ungeheuren Anforderungen, Sonntag für Sonntag eine Kantate zu musizieren, zu erfüllen.

Die Kantate „Gott der Herr ist Sonn und Schild“ ist für das Reformationsfest bestimmt und erklang wahrscheinlich erstmals am 31.10.1725 in Leipzig. In dem großangelegten Eingangschor hat bereits die einleitende Sinfonia, in der beide Themen dieses Satzes exponiert werden, mit 45 Takten ungewöhnliche Ausmaße. Auf ein charakteristisches Hornthema, das auch im Choral in der Mitte der Kantate wiederkehrt, folgt ein Fugenthema, das markante Tonrepetitionen verwendet:

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Die besondere Wertschätzung Bachs für diese Komposition kann man aus den Wiederverwendungen der Musik ersehen: der Eingangschor wird in der um 1742 entstanden Messe G-Dur, BWV 236 zum ersten Satz des "Gloria" umgearbeitet, das Duett "Gott, ach Gott" wird zum "Domine Deus" dergleichen Messe. Die Altarie "Gott ist unsere Sonn" wird zum "Quoniam" der ebenfalls 1742 entstanden A-Dur-Messe, BWV 234 umgearbeitet. Diese weitere Möglichkeit, seinen umfangreichen kompositorischen Verpflichtungen  nachzukommen, nennt die Musikwissenschaft „Parodieverfahren“.

Mit diesem Begriff werden in der Musik verschiedene Arten der Neugestaltung und Bearbeitung von (zumeist vokaler) Musik bezeichnet. Vor allem durch die Unterlegung eines neuen Textes, dessen Affekt der bereits vorhandenen Musik zu entsprechen hatte, gewinnt Bach oft aus manchem Gelegenheitswerk, wie z. B. einer Glückwunschkantate zu einem Fürstengeburtstag ein 'neues', wieder verwendbares Werk. Im Weihnachtsoratorium beispielsweise sind nahezu alle frei gedichteten Arien und Chore Parodien älterer Vorlagen (aus drei weltlichen und zwei geistlichen Werken). Wobei kein Fall bei Bach belegbar ist, wo er aus geistlicher Musik durch Neutextierung „weltliche" machte. Ein Beispiel, wie Bach aus geistlicher Musik wiederum geistliche machte, stellen die so genannten lutherischen Kurz-Messen dar.

Die Messe hatte im lutherischen Gottesdienst des 18. Jahrhunderts ihren festen Platz, sowohl als choraliter,  oder als mehrstimmige Motette, oder als  "Figuralmusik"  mit konzertierenden  Instrumenten ausgeführte liturgische Musik. Allerdings verstand man unter Missa nur Kyrie und Gloria. Kyrie und Gloria h-moll, 1733 entstanden, bilden die  älteste  von  5 überlieferten Kurz-Messen J. S. Bachs. Darüber hinaus gibt es manche Abschrift und Bearbeitung von seiner Hand meist kleinerer Meßvertonungen  anderer  Komponisten,  auch  aus vergangenen Epochen, u.a. von G. da Palestrina. Auch  die  G-Dur-Messe    (BWV   236),    deren Komposition (lat. = Zusammenstellung) von A. Dürr "eher  vor  als  nach  1742"  angesetzt  wird,  ist aus    der    Neugestaltung    älterer    Vorlagen entstanden. Bach verwendete hierzu Sätze aus vier verschiedenen Kantaten  (BWV 179,  79,  138,  17),  die zwischen 1723-26 komponiert worden waren. Bei der Neutextierung   erfährt   die   Musik   zum   Teil durchgreifende  Umformungen  in  Bezug  auf  die Silbenverteilung    und    teilweise    auf    die Instrumentierung.    Sorgfältig    bringt    Bach zahlreiche  Verbesserungen  und  Korrekturen  an, die  ein  in  sich  schlüssiges  Werk  entstehen lassen.   Überhaupt  war   zu   seiner   Zeit   der "Werkbegriff",  der  von  einer  abgeschlossenen, für immer gültigen Gestalt eines Werkes ausgeht, noch nicht bekannt. Vielmehr wurde die Musik für Wiederaufführungen stets überarbeitet, eingerichtet auf die aktuellen Bedingungen einer Aufführung und    in  manchen  Einzelheiten verbessert. So gibt es z.B. allein vier (gültige und in  sich  schlüssige)  Fassungen  der  Bachschen Johannespassion.

Das Kyrie, im 'stile antico' komponiert, gewann Bach aus dem Eingangschor der Kantate 179 "Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei", einer kontrapunktisch komplexen 'Gegenfuge' (jeder Themeneinsatz ist die Umkehrung (Spiegelung) des vorherigen), bei der neben dem teilweise selbständigen basso continuo die weiteren Instrumente mit den Singstimmen colla parte spielen. Dem Thema gesellt sich ein anfangs obligater Kontrapunkt zu, der auch gespiegelt wird, und durch Chromatik (mit den Worten der Barockzeit: der 'passus duriusculus' (allzu harter Schritt), der häufig beim Begriffsfeld 'Sünde’ verwendet wird) geprägt ist. Diese Chromatik (in vergrößerten Notenwerten) prägt auch das zweite Christe-Thema.

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Auch das Duett Nr.5 "Domine Deus" ist dem 'stile antico’ zuzurechnen. Aber Bach komponiert nicht einen motettisch-fugierten Satz, sondern er weiß bei aller imitatorischen Anlage der Komposition mit den oft parallel geführten Singstimmen eine elegante Musik zu schreiben, die auf die kommende 'Zeit der Empfindsamkeit' voraus weist. Ähnliches läßt sich über die nachfolgende Tenorarie sagen, deren vielfältige Arabesken und Ornamente einen ausdrucksstarken Affekt hervorrufen. Auch die weiteren Sätze zeigen Bachs ganze Meisterschaft, sei es die groß angelegte Bass-Arie, oder die konzertierenden Chöre, mit denen das Gloria eröffnet und beschlossen wird.

Die so genannte h-moll-Messe, die der BachChor am 9.4.2006 in der Stiftskirche aufführen wird, ist aus der Weiterentwicklung solch einer Kurz-Messe entstanden und von Bach in seinem letzten Lebensjahrzehnt zu einer ‚missa tota’ vervollständigt worden. Auch die weiteren vier überlieferten Kurz-Messen wären einer solchen Vervollständigung wert gewesen.

Bach übernahm von 1729 – 1737 und dann nochmals von 1739 – mindestens 1741 die Leitung des „collegium musicums“. Diese bürgerlich-studentische Musiziervereinigung war 1701 vom damals in Leipzig Jura studierenden Georg Phillip Telemann gegründet worden. Er benötigte ausreichend Literatur für diese ersten Konzertveranstaltungen in Leipzig, die für ein bürgerliches Publikum bestimmt waren. Das Collgium musicum konzertierte öffentlich: im Sommer mittwochs von 16 - 18 Uhr in dem vor der Stadt gelegenen Kaffeegarten, zur Messezeit gar zweimal die Woche und im Winter freitags von 20 - 22 Uhr im "Zimmermannschen Coffee-Haus". Auch für diese Arbeit benötigte Bach ausreichend viele eigene Kompositionen, die er wiederum z. T. aus Umarbeitungen älterer Instrumentalmusik, besonders aus seiner Köthener Zeit gewann. Da Bach in der Reihe seiner Söhne exzellente Cembalisten zur Verfügung standen, entwickelt er die im „5. Brandenburgischen Konzert“ begründete Klavierkonzertform weiter. Es entstehen für das Collegium musicum die Cembalokonzerte für 1 – 4 Cembali.

Das Konzert f-moll (BWV 1056) erklingt in einer Fassung für Truhenorgel und Streicher und geht wohl auf ein heute verschollenes dreisätziges Violinkonzert (in g-moll) zurück. Das Thema bezieht seine Charakteristik aus der synkopischen Bildung einer triolischen Schlussfloskel, die als Echo wiederholt wird. Die Soli sind entsprechend dem Concertoprinzip italienischer Prägung durch Tutti-Einwürfe deutlich voneinander abgehoben. Die Solopassagen laufen im geschmeidigen Triolenfluß, kommentiert durch motivische Absplitterungen aus der Tutti-Thematik. Im 2. Satz wird eine weit schwingende melismenreiche Melodie von pizzicato-Akkorden der Streicher begleitet. Der 3. virtuose Satz lebt wiederum von Überbindung, Echo und motivischem Ineinander von Soloinstrument und Streichern und mündet in eine Solo-Kadenz, bevor das Eingangsritornell dieses Konzert beschließt. Den mittleren Satz scheint Bach besonders geschätzt zu haben, da er ihn nochmals verwendet, als Sinfonia zur Kantate 156 „Ich steh mit einem Fuß im Grabe“, die am 23.1.1729 in Leipzig erstmals erklang.

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