Zuletzt geändert am Sonntag, dem 21. Oktober 2007 um 21:48 Uhr    

Felix Mendelssohn: "Hör mein Bitten"

Felix Mendelssohns Anthem "Hear my prayer" wurde 1844 für Solo-Sopran, Chor und obligate Orgel komponiert und Anfang des Jahres 1847 von ihm instrumentiert. Mendelssohn komponierte vier ineinander übergehende Teile, bei denen der häufige Wechsel von Solo und Chor an das traditionelle englische Vers-Anthem erinnert. Der Text ist eine Paraphrase des 55. Psalms, die William Bartholomew (1793-1867) verfasst hat. Bartholomew hat als langjähriger Mitarbeiter Mendelssohns in England die Texte fast aller Lieder, der Oratorien "Paulus" und "Elias" sowie des "Lobgesangs" ins Englische übertragen. Die Instrumentierung des Anthems "Hear my prayer" kam auf Anregung des irischen Baritons Joseph Robinson (1816-1898) zustande, den Mendelssohn bei Proben für seine Elias-Uraufführung im August 1846 getroffen hatte. Diese Orchesterfassung wurde erst ein Jahr nach Mendelssohns Tod, am 21.12.1848, in Dublin uraufgeführt. Die Übersetzung des englischen Originaltextes ins Deutsche scheint von Mendelssohn selbst zu stammen.

Hör  mein  Bittenk~
Hymne nach Psalm 55, 2 – 8

Hör mein Bitten, Herr, neige dich zu mir,
auf deines Kindes Stimme habe acht!
Ich bin allein; wer wird mir Tröster und Helfer sein?
Ich irre ohne Pfad in dunkler Nacht!

Die Feinde sie droh’n und heben ihr Haupt:
"Wo ist nun der Retter, an den ihr geglaubt?"
Sie lästern dich täglich, sie stellen uns nach
und halten die Frommen in Knechtschaft und Schmach!

Mich faßt des Todes Furcht bei ihrem Dräu’n! Sie sind unzählige,
ich bin allein; mit meiner Kraft kann ich nicht widerstehn,
Herr, kämpfe du für mich, Gott, hör mein Flehn!

O könnt ich fliegen wie Tauben dahin,
weit hinweg vor dem Feinde zu fliehn!
In die Wüste eilt’ ich dann fort,
fände Ruhe am schattigen Ort.

Robert Schumann: „Sechs Fugen über den Namen BACH“, opus 60

Robert Schumann schrieb seine „Sechs Fugen über den Namen BACH“ im Gefolge seiner intensiven kontrapunktischen Studien, die er zusammen mit seiner Frau Clara zu Beginn des Jahres 1845 in Dresden aufnahm. Diese „Sechs Fugen“ entstanden zwischen dem 12.3.1845 (Tagebucheintrag: „Abends Bach-Fugen-Gedanken“) und dem 22.11.1845 („Beendigung mit 6. Fuge“). Schumann hielt große Stücke auf sein opus 60 : In einem Brief an den Leipziger Verleger Friedrich Whistling, in dessen Verlag die „Sechs Fugen“ als opus 60 im November 1846 erschienen, schrieb Schumann : „Es ist dies eine Arbeit, an der ich das ganze letzte Jahr gearbeitet, um es in etwas dem hohen Niveau, das es trägt, würdig zu machen, eine Arbeit, von der ich glaube, dass sie meine anderen vielleicht am längsten überleben wird.“
Bei den „Sechs Fugen“ experimentiert Schumann damit, die Tonfolge B-A-C-H in die Themenbildung zu integrieren. Die 1. und 6. Fuge sind als Steigerungsfuge angelegt, sowohl hinsichtlich der Zunahme an kontrapunktischen Künsten (Verkleinerung und Vergrößerung und Engführung des Themas, Kombination mit einem zweiten neuen Thema in der 6. Fuge) als auch hinsichtlich der Zunahme an innerer Bewegtheit und des Grundtempos. Die 2. Fuge, virtuos toccatenhaft angelegt, verbindet die Fugenform mit Zügen der Sonatenhauptsatzform. So entstehen z. B. durchführungsartige Situationen, wenn der Themenkopf – stets in Engführung - im piano erklingend von Einwürfen der motorischen Bewegung ‚gestört’ wird.


Die Messe

Die Messe (von lat. missa, wahrscheinlich aus dem "Ite missa est" vor dem Segen) benennt in erster Linie die zentrale Gottesdienstform der römisch-katholischen Kirche, in der, abgesehen von der Predigt, ursprünglich der gesamte liturgische Text gesungen wurde.

Zu den Messgesängen von Chor und Gemeinde gehören:
das stets gleichbleibende "Ordinarium missae":
Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Benedictus, Agnus Dei
und das sonntäglich wechselnde "Proprium missae":
Introitus, Graduale, Alleluia, Offertorium, Communio.

Die mehrstimmigen Vertonungen des Ordinariums, dessen Sprache stets lateinisch ist, werden mit dem Terminus "Messe" benannt. Nachdem im Mittelalter anfangs nur Einzelteile des Ordinariums vertont worden waren, wurden diese im 14. Jahrhundert auch zu Zyklen zusammengestellt, bis ab dem 15./l6. Jahrhundert die zyklische Vertonung des fünfteiligen Ordinariums zur Regel und zur repräsentativen Gattung der Kirchenmusik wird.
Die Messe bleibt bis zum 19. Jahrhundert die zentrale Gattung der mehrstimmigen Kirchenmusik, wobei sich zwei Arten herausbildeten :

- "Missa brevis" (Kurzmesse): für den normalen Sonntag, nicht mit allen Teilen(oft fehlt das Credo oder es sind nur Kyrie und Gloria vertont) oder die
- "Missa solemnis" (Festmesse): Messe für besondere Anlässe, stets mit allen fünf Teilen des Ordinariums. Der Zusatz "solemnis" bezieht sich auf die deutlich längere zeitliche Dauer, auf den Charakter und die umfangreich erweiterte Orchesterbesetzung.

Die Missa brevis war eine deutsche Besonderheit. W. A. Mozart klagte 1776 seinem Lehrer Padre Martini in einem Brief, die deutsche katholische Kirchenmusik unterscheide sich sehr von der italienischen (in der ganze Konzerte erklangen): eine vollständige Messe mit Motette und Kirchensonate, auch die solemnis, dürfe nur eine 3/4-Stunde dauern, womit Mozart besonders die Verhältnisse in Salzburg beschrieb.

Der Bereich der liturgischen Kirchenmusik - Messvertonungen waren bis dahin stets für den gottesdienstlichen Gebrauch komponiert worden - spielt im 19. Jahrhundert nicht mehr die zentrale Rolle wie bisher. Es entstehen mehr und mehr religiöse, nicht-liturgische Werke. Oder aber die Vertonungen des Ordinariums sprengen ob ihres Umfangs den Rahmen der Liturgie (z. B. Beethovens "Missa solemnis").

Auch Luther hielt an der Gottesdienstform der Messe mit einigen tiefgreifenden Veränderungen im Abendmahlsteil gemäß seines theologischen Kritikansatzes fest. Er legte in der "Formula missae et communionis" (1523) eine lateinische (!) und später (1526) eine "Deutsche Messe" als Gottesdienstform vor. Auch in der evangelischen Kirchenmusik gibt es zahlreiche Beispiele für Messvertonungen, besonders von missae breves. Die deutschsprachige Messe erwies sich
allerdings als kaum lebensfähig. Als bedeutendste Vertonung des Ordinariums auf evangelischer Seite sei auf die h-moll-Messe von J. S. Bach verwiesen, die Schumann in Düsseldorf mit seinem Chor erarbeitet hat.


Robert Schumann : „Missa sacra“, opus 147

Am 2. September 1850 siedelte die Familie Schumann von Dresden nach Düsseldorf über, wo Robert Schumann auf Vorschlag von Ferdinand Hiller dessen Nachfolge als Städtischer Musikdirektor antrat. Er war somit Nachnachfolger von Felix Mendelssohn, der diese Stelle von 1833-1835 innehatte. Robert Schumann hatte in Düsseldorf das Berufsorchester des „Allgemeinen Musikvereins“ sowie den sich aus Laiensängern der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht zusammensetzenden Gesangsverein zu leiten. Der „Allgemeine Musikverein“ veranstaltete zehn Abonnementskonzerte pro Wintersaison, die Schumann leitete. Er war darüber hinaus jährlich zu vier Kirchenmusiken in katholischen Gottesdiensten verpflichtet Auch die Ausrichtung des bedeutenden alljährlichen „Niederrheinischen Musikfestes“ gehörte zum Aufgabenbereich des Musikdirektors. So führte Schumann G. F. Händels „Israel in Ägypten“, „Josua“ und den „Messias“ sowie J. S. Bachs „Johannespassion“ und im April 1852 Bachs „Matthäuspassion“ im Rahmen der Abonnementskonzerte auf. 1851 kam an Fronleichnam J. Haydns „Missa S. Bernardi de Offida“ sowie in den beiden folgenden Jahren L. van Beethovens C-Dur-Messe zur Aufführung.  

Schumann hatte in seinem kompositorischen Schaffen immer wieder Schwerpunkte gesetzt. Nach dem „Liederjahr“ 1840 und dem „Kammermusikjahr“ 1842 – er hatte zuvor fast ausschließlich Klaviermusik komponiert -  erschloss er sich in Düsseldorf kompositorisches Neuland. In Dresden hatte er mit „Das Paradies und die Peri“ sowie den fertiggestellten Vokalteilen der „Szenen aus Goethes Faust“ maßgebliche Beiträge zum weltlichen Oratorium geschaffen. Im Frühjahr 1851 plante Schumann ein „Luther“ – Oratorium, das jedoch nicht verwirklicht wurde. Zwischen dem 12. Februar und dem 30. März 1852 komponierte und instrumentierte er als erstes größeres geistliches Werk seine Messe c-moll für Soli, Chor und Orchester, opus 147, für die er im April 1852 auch eine Orgelfassung erstellte. Schumann plante wohl eine Aufführung im Fronleichnamsgottesdienst 1852, was aber nicht realisiert wurde. 1853 ergänzte er die Messe um eine kurzes Offertorium „Tota pulchra es, Maria“, wohl um die Orgelfassung bei einem Kompositionswettbewerb in England einreichen zu können. Eine Reminiszenz des evangelisch getauften Schumann an sein katholisch geprägtes Düsseldorfer Wirkungsfeld?
Weder eine Gesamtaufführung der Messe noch die Veröffentlichung im Druck hat Schumann noch erlebt. In einem Abonnementskonzert am 3. März 1853 erklangen zumindest Kyrie und Gloria zusammen mit einer Sinfonie, einer Chorballade, drei Liedern sowie Beethovens 4. Klavierkonzert. Geradezu idealtypisch sind hier die verschiedenen Erscheinungsformen öffentlicher Musikdarbietung versammelt. Die Messe erschien erst 1862 im Druck, nachdem Clara Schumann nach einer Aufführung 1861 Teile der Messe in Aachen hörte und an Johannes Brahms schrieb: „Tief ergreifend ist das Kyrie und wie aus einem Gusse, im Sanctus einzelne Sätze von so wundervoller Klangwirkung, dass es einem kalt über den Rücken rieselt.“ Die Orgelfassung erschien gar erst 1991 im Druck.

In seiner Heidelberger Zeit, in der Schumann von 1829-30 sein Jurastudium fortsetzte, war seine Auffassung von Kirchenmusik stark von dem restaurativen Kreis um den Juraprofessor Justus Thibaut (1772-1840) bestimmt, der sich selbst als „keinen Musiker von Profession“  beschrieb. Dessen Buch „Über die Reinheit der Tonkunst“ (1825) erklärte die Musik Giovanni da Palestrinas zum Ideal und sakrosankt. Dieses Buch prägte das musikalische Denken seiner Zeit und der nachfolgenden Jahrzehnte nicht unerheblich. Noch in Schumanns lesenswerten „Musikalischen Haus- und Lebensregeln“ von 1848 heißt es: „Ein schönes Buch über Musik ist das „Über die Reinheit der Tonkunst“ von Thibaut. Lies es oft, wenn du älter wirst - “. Schumann war gänzlich beeindruckt von den Privat-Chorproben, die Thibaut in Heidelberg abhielt. Er schrieb, noch von Thibauts Absichten beeinflusst: „Gerade in der Kirchenmusik hatte sich ein süßlich-sentimentaler Ausdruck eingeschlichen, der eher zum Tempel heraustrieb als zur Andacht erweckte […] Mendelssohn aber hat unter den Norddeutschen zuerst wieder auf die wahre Spur hingelenkt, auf Händel und Bach, die über die weichen Süddeutschen Mozart und Haydn etwas in Vergessenheit geraten waren, auf die wahren Glaubenshelden unserer Kunst.“ Andererseits wollte Schumann  nicht „Anbeter des allzu Antiken“ sein. Er glaubte an die Notwendigkeit neuer „Palestrinagesänge“, wie er sie beispielsweise in Schuberts vierstimmigem Gesang „Gebet“, opus 139 verwirklicht fand: „Dies sind unsere Palestrinagesänge, so spricht sich die neue Kunst im Gebet aus, duldend und vertrauend, aber auch tatkräftig und zum Handeln bereit“. In seinen Schriften wird aber auch immer auf  das intensive Studium der Meisterwerke vergangener Epochen verwiesen: „ […]  nicht, dass ihr über jedes einzelne jedes einzelnen in ein gelehrtes Staunen geraten möchtet, sondern die nun erweiterten Kunstmittel auf ihre Prinzipien zurückführen und deren besonnene Anwendung auffinden lernt.“
Dies in Verbindung mit seiner Forderung von einer Messevertonung, sie müsse „Schönes und Poetisches und im ganzen wahrhaft  religiöses Gefühl“ vereinen, lässt sich an seiner eigenen Messe verifizieren, die formale Knappheit, thematische Prägnanz, zielbewusst eingesetzte und expressiv genutzte Kontrapunktik mit einer Schönheit der Harmonie und einer poetischen Linienführung der einzelnen Stimmen verbindet.

Schumann stellt seine musikalischen Formideen über die Anforderungen des liturgischen Textes, der eigentlich fortlaufend zu komponieren wäre. So kommt es zu Textumstellungen (im Gloria und Credo), zu Erweiterungen (im Sanctus) oder gar zu Textauslassungen (im Credo sind die Worte „ et expecto resurrectione mortuorum“ nicht vertont, was Schumann in einigen der ihm bekannten Messen Schuberts beobachtet haben dürfte). Oft ist die musikalische Form nicht deckungsgleich mit der textlichen Anlage (beispielsweise ist das Agnus Dei dreiteilig komponiert, jedoch entsprechen diese drei Teile nicht den drei Anrufungen des liturgischen Textes).
Wie zum Beispiel Beethoven in seiner „Missa solemnis“ so durchsetzt auch Schumann den Credo-Satz mit vokalen und instrumentalen Einwürfen, denen ein Vierton-Motiv auf die Worte „Credo, credo“ zugrunde liegt, das in der abschließenden Fuge über „Cum sancto Spiritu“ als Kontrapunkt wieder erklingt. Im Gloria wird die prägnante Musik des Anfangs bei „Quoniam tu solus sanctus“ wiederaufgenommen. Das gesamte Gloria wirkt nicht so sehr als Vertonung des Textes Satz für Satz, sondern als großer musikalischer Entwurf über das „Ehre sei Gott in der Höhe“: die akklamative Wiederholung des „Gloria in excelsis" nimmt mit 51 Takten breiten Raum ein.
Das Sanctus wird von der ursprünglichen vierteiligen Anlage (Sanctus – Hosanna – Benedictus - Hosanna) zur Siebenteiligkeit geweitet, u.a. in dem Schumann anstelle des wiederholten Hosannas nach dem Benedictus den von Thomas von Aquin gedichteten Hymnus „O salutaris hostia“ einfügt und das eröffnende klanglich-statische „Sanctus“ anschließt, bevor eine an Händel gemahnende „Amen“-Fuge den Satz beschließt – eigentlich gibt es im „Sanctus“ kein Amen! Solch eine Einfügung einer Vertonung von „O salutaris hostia“ findet sich auch in drei Messen von Luigi Cherubini (1760-1842), von denen Schumann wenigstens eine kannte. Hier im Sanctus beeindruckt  Schumanns freier Umgang mit der Gattungstradition besonders.
Es finden sich aber immer wieder traditionelle Züge, wie in den typenhaften Themen der traditionell ‚geforderten’ Fugati bei „cum sancto spiritu“ im Gloria oder bei „et vitam venturi saeculi“ im Credo. Dagegen überzeugt Schumanns Modernität: im dreiteiligen Kyrie mit seinen geistreichen Kanonbildungen bleibt der Anfang tonal unbestimmt, Ostinato-Motive führen im Credo bei „et incarnatus est“ und „crucifixus“ durch Chromatik und pendelnde Begleitfiguren ebenso zu einer bis dahin unerhörten Statik des Klanggeschehens wie der Beginn des Sanctus mit seinen ‚unendlich’ erklingenden Harmonien.

                                                                                                                                                                  Ingo Bredenbach