Zuletzt geändert am Montag, dem 22. Oktober 2007 um 20:55 Uhr    

Felix Mendelssohn: "Vom Himmel hoch"

Am 1. Oktober 1820 wurde der 11-jährige Felix Mendelssohn zusammen mit seiner 15-jährigen Schwester Fanny in die „Berliner Singakademie“ aufgenommen, einem Laienchor, der 1791 durch den Komponisten Karl Friedrich Fasch (1736-1800) gegründet worden war. Der Chor sang seit seiner Gründung Vokalmusik Johann Sebastian Bachs, anfangs dessen Motetten, dann Teile der  h-moll-Messe sowie der Johannes- und Matthäuspassion. Ab 1800 leitete Friedrich Zelter (1758 -1832), Kompositionsschüler von Fasch, die Singakademie. Zelters Briefwechsel mit Goethe, gerade auch zur Bachschen Musik stellt ein wichtiges Zeugnis seiner Verehrung Bachs dar. So schrieb Zelter am 9.6.1827 an Goethe: „Bach gilt für den größten Harmonisten, und das mit Recht. Daß er ein Dichter ist der höchsten Art, dürfte man noch kaum aussprechen, und doch gehört er zu denen, die wie Dein Shakespeare hocherhaben sind über kindischem Brettgestelle. Als Kirchendiener hat er nur für die Kirche geschrieben, und doch nicht, was man kirchlich nennt. Sein Stil ist Bachisch, wie alles, was sein ist [...]. Bachs Urelement ist die Einsamkeit, wie Du ihn sogar anerkanntest, indem Du einst sagtest: «Ich lege mich ins Bett und lasse mir von unserm Bürgermeisterorganisten in Berka Sebastiana spielen.» So ist er, er will belauscht sein.“  Goethe antwortete am 21.6.1827 mit jenen berühmt gewordenen Gedanken zur „ewigen Harmonie“: „Wohl erinnere ich mich bei dieser Gelegenheit an den guten Organisten in Berka; denn dort war mir zuerst, bei vollkommener Gemütsruhe und ohne äußere Zerstreuung, ein Begriff von Eurem Großmeister geworden. Ich sprach mir's aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte sich's auch in meinem Innern, und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.“ Dieses geistige Umfeld prägte den jungen Mendelssohn, der Zelters Kompositionsschüler war, wegweisend.

Felix Mendelssohn sang anfangs in der „Berliner Singakademie“ im Alt, ab 1824 im Tenor. Die Beurteilung in der Namensliste lautet „brauchbar“. Bald gründete er einen eigenen gemischten Chor, der samstags im Elternhaus probte. Von seiner Großmutter erhielt  Mendelssohn 1823 eine Abschrift der Bachschen Matthäuspassion und begann 1827, diese mit seinem Chor zu proben, um sie öffentlich aufzuführen. Der anfangs skeptische Zelter bereitete sodann eine Aufführung der Singakademie mit vor. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Sänger Eduard Devrient setzte Mendelssohn gegen Zelters anfänglichen Widerstand am 1. März 1829 bei der Singakademie eine öffentliche Aufführung der gekürzten und für diesen Anlass bearbeiteten Matthäuspassion mit einem 158-köpfigen Chor unter seiner Leitung in Berlin durch. Es war die erste Wiederaufführung der Passion seit Bachs Tod. Zelter hatte früher schon mit der Singakademie einzelne Teile der Passion einstudiert, hatte eine Gesamtaufführung jedoch für undurchführbar gehalten. Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie noch zweimal wiederholt werden musste (die dritte Aufführung leitete Zelter, da Mendelssohn inzwischen nach England abgereist war). Diese Aufführungen waren der Beginn einer stetig wachsenden Bach-Renaissance.

Im Mai 1830 brach Mendelssohn zu einer zweijährigen Reise in den Süden auf, die ihn über Leipzig zu einer letzten Begegnung mit Goethe in Weimar führte. Über München und Wien - hier traf er den befreundeten Opernsänger und Bach-Handschriften-Sammler Franz Hauser -  reiste Mendelssohn über Venedig, Bologna und Florenz nach Rom, das er am 1. November 1830 erreichte. Dort entstand in der Weihnachtszeit die Kantate ‚Vom Himmel hoch’, eine von insgesamt fünf in Rom komponierten Choral-Kantaten, deren Texte er einem „kleinen Büchlein mit Luthers Liedern“ entnahm, das ihm Franz Hauser geschenkt hatte. Vor allem „der Eindruck des ganzen Rom" wirkte sich auf Mendelssohns Arbeiten aus. „[...] ich fühle mich glücklich u. gesund, wie seit langem nicht, u. habe am Arbeiten solche Freude u. danach, daß ich wohl noch viel mehr hier auszuführen denke, als ich mir vorgesetzt hatte, denn ich bin schon ein ganz Stück hinein. Wenn nun Gott mir Fortdauer dieses Glücks schenkt, so sehe ich dem schönsten, reichsten Winter entgegen."  Über diesen „reichen"  Winter sandte Mendelssohn einen 'Zwischenbericht' nach Hause: „Der Choral 'Mitten wir im Leben sind' (op.23,3)  ist seitdem fertig geworden; er ist wohl eins der besten Kirchenstücke die ich gemacht habe, [...]. Wenn die Hebriden (op.26) fertig sind, so denke ich mich an 'Salomon' von Händel, dessen Partitur mir Santini gegeben hat, zu machen u. ihn für eine künftige Aufführung fertig einzurichten mit Abkürzungen u. allem. [...].  Nach dieser Arbeit denke ich die Weihnachtsmusik  ,Vom Himmel hoch' u. die a-moll Sinfonie (op.56) zu schreiben; dann vielleicht einige Sachen fürs Clavier u. ein Concert u.s.w. wie es kommen will." Es fällt auf, welch große Rolle die geistlichen Werke während Mendelssohns Italienaufenthalt spielen. So schrieb er am  15.7.1831 rückblickend an seinen Freund Eduard Devrient, der bei der Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion die ‚Jesus’-Partie gesungen hatte : „Und daß ich gerade jetzt mehrere geistliche Musiken geschrieben habe, das ist mir ebenso Bedürfniß gewesen, wie es Einen manchmal treibt, gerade ein bestimmtes Buch, die Bibel oder sonst was zu lesen, und wie es Einem dabei recht wohl wird. Hat es Aehnlichkeit mit Seb. Bach, so kann ich wieder Nichts dafür; denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Muthe war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Muthe geworden ist, wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn Du wirst nicht meinen, daß ich seine Formen copire ohne Inhalt; da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben." Offenbar schrieb Mendelssohn diese Choralkantaten, die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden, für die Berliner Singakademie, für die sich Zelter mehr „Vierstimmiges“ und nicht „alles gleich zweichörig oder achtstimmig“ komponiert wünschte.

Der Kantate liegt der Text Martin Luthers von 1535 zugrunde, zu dem Luther 1539 auch die Melodie schrieb. Die Begeisterung Mendelssohns für Luthers Texte spricht aus einem Brief vom 2.1.1831 an Karl Klingemann in London: „Wie da jedes Wort nach Musik ruft, wie jede Strophe ein anderes Stück ist, wie überall ein Fortschritt, eine Bewegung, ein Wachsen sich findet, das ist gar zu herrlich und ich komponiere hier mitten in Rom sehr flüssig daran und betrachte mir das Kloster, wo er gewohnt hat, und sich damals von dem tollen Treiben der Herren überzeugte." Und Mendelssohn empfahl seinem Londoner Freund, sich dieses „klein Büchlein mit Luthers Liedern“ unbedingt zu beschaffen: „ich bitte dich, lies sie, oder wenn Du sie nicht gesammelt bekommen kannst, so schlag' im Gesangbuch etwa folgende auf: ,Mitten wir im Leben sind' oder ,Aus tiefer Not' oder ,Vom Himmel hoch, da komm ich her', ,Ach, Gott vom Himmel, sieh darein', ,Mit Fried' und Freud', kurz alle."
Mendelssohn gelingt es in diesen Choralkantaten einen ‚ganz eigene Ton’ zu finden und ist weit entfernt, bloße Kopien einer Bachschen Choralkantate zu komponieren. Die Anverwandlung der Bachschen Vorbilder mit dem Eingangschor, der prächtig breit angelegt ist, den liedhaften Arien und dem plastischen Arioso spiegeln sich in diesem Kompositionsstil wider.

                                                                                                                                                                                       IB